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Eine aktuelle Botschaft

»Das Boot ist voll!« – Dieser Satz wurde während des Zweiten Weltkriegs von vielen Schweizern im Munde geführt. Heute hört man ihn wieder vermehrt. Der Journalist und Schriftsteller Alfred A. Häsler setzte sich 1967 als einer der Ersten kritisch mit der Schweizer Flüchtlingspolitik auseinander und öffnete in seinem gleichnamigen Buch einer breiten Öffentlichkeit die Augen über dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte. Ein Auszug aus dem Vorwort von Roger de Weck.

Szene aus der Verfilmung von ›Das Boot ist voll‹ von Markus Imhoof (Schweiz/BRD/Österreich 1981).

Vorwort

Die Zeitschrift Der Beobachter enthüllte Ende März 1954 »die maßgebliche Rolle der Schweiz bei der Kennzeichnung der Pässe deutscher Juden mit dem J«, erzählt Alfred A. Häsler in seinen Memoiren. Die helvetische Öffentlichkeit war außer sich. Und die Regierung in Bern beauftragte den Strafrechtler Carl Ludwig mit einem Bericht zur »Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933«. Darin zeichnete Ludwig ein »beschämendes Bild staatlichen Verhaltens, das sich nicht an der humanitären, sondern an der judenfeindlichen Tradition der Eidgenossenschaft orientiert hatte«, so Häsler. Der Ludwig-Bericht fiel jedoch »nach relativ kurzer Zeit dem Vergessen anheim«.

Ähnlich ergeht es ein halbes Jahrhundert später dem umfassenden Bericht Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Eine vom Parlament beschlossene, vom Bundesrat ernannte und vom Historiker Jean-François Bergier geleitete Expertenkommission legte ihn 2002 vor. Doch dieses in Europa beispiellose Forschungs- und Erinnerungswerk eines kleinen Landes – 25 Bände – gerät ebenfalls »nach relativ kurzer Zeit« in Vergessenheit.

Unvergessen bleibt aber Das Boot ist voll aus dem Jahr 1967. Häslers Buch ist nach wie vor unerlässlich und unersetzlich, erst recht, wenn heute ganz andere Boote tatsächlich voll sind: die Flüchtlingsboote, die übers Mittelmeer setzen und oft kentern oder zerschellen.

»Das Boot ist voll verdient, von jeder Generation gelesen zu werden. Mit der aktuellen Einleitung von Roger de Weck wird klar, weshalb. Häslers Botschaft könnte zeitgemäßer nicht sein.« (Tages-Anzeiger)

Um Flüchtlinge und Zuwanderer abzuschrecken, ist die europäische Flüchtlingspolitik »auf Vorrat hin grausam« geworden – den Ausdruck prägte am 23. September 1942 der liberale Chefredaktor der Basler Nachrichten, Albert Oeri, als im Nationalrat die Volksvertreter über das Abweisen und Abschieben jüdischer Flüchtlinge debattierten. »Auf Vorrat grausam«: Genauso betitelte Häsler das Kapitel seiner Memoiren, das er der Arbeit an Das Boot ist voll widmete.

Die ersten Recherchen unternahm er in einer Zeit, als Juden und Deutsche anfingen, den Holocaust öffentlich aufzuarbeiten. In Israel war 1961 der SS-Obersturmbannführer und millionenfache Mörder Adolf Eichmann vor Gericht gestanden. 1962 wurde er gehenkt. Hannah Arendt, die den Prozess verfolgt hatte, veröffentlichte 1963 ihren berühmten Essay über die Banalität des Bösen, Eichmann in Jerusalem. Gleichzeitig begannen in Frankfurt am Main die Auschwitz-Prozesse. Da wollte der Verlag Ex Libris Alfred A. Häsler für ein Buch über die Flüchtlinge in der Nazizeit gewinnen. Er sagte zu, »nach vielen Gesprächen, in denen ich von meinen Erlebnissen berichtet hatte«.

Häslers Lebensweg zeugt von der Kraft und Fragilität dieser viel beschworenen, stets bedrängten humanitären Tradition im Land des Roten Kreuzes. 2009 in Zürich gestorben, 1921 im Berner Oberland geboren, hatte er aus der Nähe das Auftrumpfen der Schweizer Nazis erlebt: »Eine prägende Erfahrung war für mich die Auseinandersetzung mit der Nationalen Front in Interlaken.« Den Bauernsohn erschütterten »die heftigen Attacken gegen die Geschwister Geismar, die Besitzer des Textilladens ›Zur Stadt Paris‹. Hier kaufte die Mutter Kleider ein.« Die fromme Frau schätzte diese jüdischen Kaufleute und »brachte ihnen jeweils im Herbst von den Früchten des Ackers und der Obstbäume. Die Hetze gegen die Geschwister Geismar versetzte mich in helle Empörung.«

Am 1. September 1939 verkauft Häsler – inzwischen Schriftsetzer bei der Regionalzeitung Oberland – auf Interlakens Straßen die Sonderausgabe, die den Kriegsausbruch vermeldet. Darin ist zu lesen: »Ein einziger Mensch verschreibt Hunderttausenden, vielleicht Millionen Menschen den Tod.«

Wenig später erhält Häslers Mutter Besuch. In Trauerkleidung erscheint eine Freundin, die nach Deutschland geheiratet hatte. Die Gestapo hat ihren Mann verhaften wollen, wegen »Abhörens ausländischer Sender«. Woher sie das wüssten, erkundigte sich der Verdächtige. »Fragen Sie doch mal Ihren Sohn.« Dann habe der Mann um Erlaubnis gebeten, noch etwas im Hause zu holen. Drinnen seien zwei Schüsse gefallen, er habe den Siebenjährigen und sich getötet. Die Witwe sagt: »Er hat es nicht ertragen‚ dass das Regime Kinder veranlasst, die eigenen Eltern zu verraten.«

»Das Recht – es ist Voraussetzung der Freiheit. Ohne Gesetze gilt von vornherein das Recht des Stärkeren, das die Freiheit erstickt.«

Im Krieg korrespondiert Häsler mit deutschen Emigranten, Häftlingen in französischen Abschiebelagern, namentlich mit dem Kölner Spanienkämpfer Heinz Gérard, dem er Lebensmittelpakete schickt. Gérards Freundin Edna Kahn-Wolff ist noch in Freiheit. Sie hofft, nach Annecy unweit von Genf zu gelangen – sich in die Schweiz zu retten. »Wer weiß, ob wir uns nicht mal sehen werden.« Ihr letzter Brief trifft am 28. August 1943 ein: »Es ist alles ganz anders gekommen … Mit festem Händedruck, Edna.« Sie stirbt in Auschwitz.

Alfred A. Häsler (1921-2009). Foto: privat

Schriftsetzer Häsler verwandelt sich nachts in einen Schreiber, der an der Zensur vorbei die Stimme der Wahrheit herausgibt, Auflage hundert Exemplare. In den Spalten des Oberlands kann er Artikel des mutigen evangelischen Pfarrers Paul Vogt unterbringen, so 1943 den zornigen Beitrag »Die Flüchtlingsfrage – eine Schicksalsfrage für die Schweiz«. Vogt ruft die Regierung auf, Juden nicht länger abzuweisen: »Die Art, wie die Schweiz den Flüchtlingen entgegentritt, wird in Zukunft Ehre für sie einlegen (…) oder auch nicht, je nachdem.«

Solche Erfahrung fließt später in Das Boot ist voll ein. Alfred A. Häsler, der 1944 zur »Genossenschaftsdruckerei« nach Zürich gewechselt war, bekam eines Tages »den Auftrag, einen Prospekt zu setzen, der auf einen ›Schulungskurs für fürsorgerische Hilfskräfte in der Nachkriegszeit‹ hinwies. Ich meldete mich an.« Unter den Dozenten war der Arzt Josef Weill vom jüdischen Kinderhilfswerk OSE in Genf, wo Häsler volontierte und nach verschollenen Kindern forschte. Als er die Briefe verzweifelter Eltern las, erlebte er »den Schmerz beinahe physisch«. Früh erfuhr er vom Ausmaß des Völkermords; in der linken Zeitung Volksrecht schrieb er, die Nachwelt werde »die Urheber dieser Verbrechen nicht vergessen. Aber sie wird auch jene nicht von ihrer Verantwortung freisprechen, die brav und feige – schwiegen.« Häsler fuhr fort: »Und wenn einmal die Schleier gelüftet werden dürfen, wenn eine allzu ängstliche, um die Neutralität besorgte Zensur die Wahrheit nicht länger unterdrücken darf, wird die Welt erfahren, wozu Menschen fähig sind, die nicht mehr ans Recht gebunden sind.«

Das Recht – es ist Voraussetzung der Freiheit. Ohne Gesetze gilt von vornherein das Recht des Stärkeren, das die Freiheit erstickt. Doch in der Flüchtlingspolitik lauert heute wie damals die Gefahr, dass die demokratischen, von Parlament und Volk erlassenen Gesetze ebenfalls das Recht des Stärkeren besiegeln. Einheimische entscheiden über die Entwurzelten, Behütete über die Bedrängten. So kommt es, dass das geltende Schweizer Gesetz beispielsweise die Möglichkeit eröffnet, einen unbescholtenen 15-jährigen Ausländer ein Jahr lang einzukerkern. Dieser zivilisatorische Rückschritt wird verharmlosend formuliert: Ausschaffungs-, Vorbereitungs- und Durchsetzungshaft dürfen »zwölf Monate nicht überschreiten«. Im Vergleich zeugte das frühere Asylgesetz aus dem Jahr 1981 »von einem liberalen Geist, der sich an den Menschenrechten orientierte. So galt als Asylgrund schon psychischer Druck eines diktatorischen Regimes auf kritische Bürgerinnen und Bürger«, schreibt Alfred A. Häsler in seinen Memoiren mit dem beharrlichen Titel Einen Baum pflanzen, die 1996 der Zürcher Pendo Verlag herausgab.

Beharrlichkeit ist das vielleicht wirksamste Mittel im Kampf für Menschenrechte und gegen diejenigen, die sie relativieren. Diese Menschenrechte nämlich gelten auch für Rechtlose und Entrechtete: für die mindestens sechzig Millionen Flüchtlinge, Vertriebenen, Verfolgten und Staatenlosen, die das Genfer Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen 2014 zählte. Doch die Neokonservativen, die im zurückliegenden Vierteljahrhundert Begriffe besetzten und Regierungsämter bestückten, schüren den Hass auf das Recht. Sie wollen den allgegenwärtigen Wettbewerb, in dem sich der Starke durchsetzt. Aus ihrer Sicht beengen Gesetze die Freiheit, statt diese zu sichern. Freiheit, das ist für sie die Freiheit der Starken, wohingegen ein demokratischer Rechtsstaat die Freiheit auch der Schwächeren hütet. Neokonservative möchten den Staat schlechtmachen, weil er dem Recht des Stärkeren entgegensteht. Ihr Zauberwort ist Deregulierung – bis zum Punkt, da sie die Menschenrechte deregulierten: als Sinnbild George W. Bushs Guantánamo.

Die Schweiz verweist gern darauf, Genf sei der Hort des humanitären Völkerrechts, nämlich der Konventionen zum Schutz der Kriegsopfer und der Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (ein früheres Abkommen aus dem Jahr 1938 blieb toter – und todbringender – Buchstabe). In der heutigen Schweiz jedoch ist abermals die »Humanität im Gegenwind«, eine Häsler’sche Wendung. Vertreter einer »Politik der Härte« führen das Wort. Wer sich auf die humanitäre Tradition beruft und auf die Lehren aus der Geschichte bezieht, ist ein lächerlicher »Gutmensch«.

Gültig bleibt da der Leitartikel, den Markus Feldmann 1942 nach der Flüchtlingsdebatte im Parlament schrieb. Der Chefredaktor der Neuen Berner Zeitung – des Organs der Schweizerischen Volkspartei, die damals noch Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei hieß – beschwor seine Landsleute und die leise Hoffnung, »dass wir in der Lösung dieser Aufgaben anständig dastehen vor denen, die vor uns da gewesen sind, und denen, die nach uns kommen werden!«

Und gültig müsste bleiben, was der Bundesrat am 1. Februar 1957, nach dem Aufstand der Ungarn gegen die Kommunisten, in seinen »Grundsätzen für die Handhabung des Asylrechts in Zeiten erhöhter internationaler Spannung« schrieb. Häsler zitiert sie: »Das schweizerische ›Asylrecht‹ ist nicht bloß Tradition, sondern staatspolitische Maxime; es ist ein Ausdruck der schweizerischen Auffassung von Freiheit und Unabhängigkeit. (…) Aus der Entwicklung des Flüchtlingswesen während des Zweiten Weltkriegs ergibt sich der Schluss, dass die Schweiz ausländische Flüchtlinge, das heißt Menschen, die wegen ernsthafter Gefahr für Leib und Leben in unserem Lande Zuflucht suchen möchten, so lange aufnehmen sollte, als ihr das möglich ist (…). Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Asylgewährung nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Fremdenpolizei, sondern auch als humanitäres und politisches Problem von außerordentlicher Bedeutung behandelt werden muss. (…) Im Hinblick auf die Pflicht, eine der schweizerischen Tradition entsprechende Asylpraxis einzuhalten, ist eine freie, weitherzige Aufnahme von Flüchtlingen in Aussicht zu nehmen.«

Auch das fiel »nach relativ kurzer Zeit dem Vergessen anheim«. Wer Häsler liest, vergisst langsamer.

Roger de Weck

 

Alfred A. Häsler wurde 1921 im Berner Oberland geboren. Ab 1939 erschienen von ihm u.a. in der Nation erste Artikel gegen die schweizerische Flüchtlingspolitik. Von 1958 bis1977 war er Redakteur bei der Tat, 1964 bis 1985 bei Ex Libris, 1977 bis 1984 bei der Weltwoche, daneben arbeitete er als freier Mitarbeiter für Radio und Fernsehen. Er starb am 7. April 2009 in Zürich. Sein Buch Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933–1945 wurde 1981 von Markus Imhoof verfilmt.

Roger de Weck wurde 1953 in Freiburg geboren. Er schrieb für die Tribune de Genève, die Weltwoche und Die Zeit. Von 1992 bis 1997 war er Chefredaktor des Zürcher Tages-Anzeiger, anschließend kehrte er als Chefredaktor zur Zeit nach Hamburg zurück. Von 2001 bis 2010 war er Publizist in Zürich und Berlin. Heute ist er Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR).

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