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Donna Leon besucht Annett Renneberg im Tonstudio

Für den Diogenes Verlag gibt es allen Grund zu feiern: Nicht nur wird Donna Leon, die charmante und witzige Autorin hinter Commissario Brunetti, diesen September 80 Jahre alt, sondern es gibt 2022 nach Milde Gaben auch gleich einen zweiten Titel von ihr zu lesen und, vor allem, auch zu hören.

Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag

Voller Vorfreude auf den runden compleanno gibt es diese Woche einen Blick hinter die Kulissen des Hörbuchs der autobiografischen Anthologie Ein Leben in Geschichten zu erhaschen. Dieses hat die bekannte Schauspielerin Annett Renneberg eingelesen. Die Freundschaft mit Donna Leon geht bis ins Jahr 2007 zurück: Seither moderiert und liest Annett Renneberg auf ihren Lesereisen in Deutschland. Und auch in den ARD-Fernsehreihe Donna Leon, die von 2000 bis 2019 lief, war Annett Renneberg in der Rolle der Signorina Elettra Zorzi zu sehen.
    Umso passender ist es also, dass sie dieses spezielle Buch eingesprochen hat. Und dass diese Aufnahmen mit viel Spass verbunden waren, ist auch keine Frage:

Wie das Ganze herausgekommen ist, kann man sich in dieser Hörprobe zu Gemüte führen.
    Damit nicht genug. Es gibt zudem eine exklusive Leseprobe:

Halloween

Erstmals in Wow. Hundestories zum Staunen. Diogenes Verlag, Zürich 2019.

Nur anderen Amerikanern gegenüber traue ich mich zu sagen, meine Mutter war eine Verrückte. Für sie klingt das nicht nach einer Irren, die durch die Straßen rennt und schreit, der Tag des Jüngsten Gerichts sei nah. Für sie kann auch jemand gemeint sein mit einem ungewöhnlichen Sinn für Humor oder einer Vorliebe fürs Absurde. Genau so ein Mensch war meine Mutter, eine Frau, die es mit Emily Dickinson hielt: »Sag Wahrheit ganz, doch sag sie schräg.« In meinen frühesten Erinnerungen nimmt sie uns zur Farm ihres Vaters mit und hebt meinen Bruder und mich lachend auf Augenhöhe mit den Kühen oder setzt uns auf eines der riesigen Arbeitspferde, die für uns damals so groß wie Häuser waren. Oder wir stiegen alle miteinander die Leiter zum Heuboden hoch, und sie sprang uns voran auf den Heuwagen hinunter. Regelmäßig erklärte sie dem Schuldirektor, wir müssten in der letzten Stunde eine Tante im Krankenhaus besuchen, hätten einen Termin beim Arzt oder Zahnarzt. In Wirklichkeit fuhren wir zur Farm, wo wir Sal, dem Hufschmied, zusahen, wie er ein Pferd beschlug oder ein Ackergerät flickte. Von ihr haben wir, fürchte ich, den großzügigen Umgang mit der Wahrheit geerbt. Auch unsere Umtriebigkeit verdanken wir ihr, denn sie liebte es, Dinge zu tun, Dinge zu machen: Sie erneuerte das Rohrgeflecht von Stühlen, reparierte Möbel, tapezierte Wände und wechselte Fensterscheiben aus – alles als Autodidaktin, und alles Dinge, die ich auch gern gekonnt hätte. Dafür war sie eine hoffnungslos schlechte Köchin, von Nachtisch und Kuchen einmal abgesehen, aber wir waren Kinder und merkten das nicht. Mein Vater, der sich auch nicht so schnell unterkriegen ließ, sah großzügig darüber hinweg und ernährte sich hauptsächlich von Erdnüssen.
    Halloween ist ein typisch amerikanischer Feiertag: Die Leute geben sich als etwas aus, das sie nicht sind, und erwarten dafür eine Belohnung. In meiner Kindheit zogen wir notdürftig verkleidet von Haus zu Haus, um Süßigkeiten zu erbetteln. Doch meine Mutter hielt, anders als die meisten Eltern ihrer Generation, wenig davon, dass Kinder, mit alten Laken als Gespenster ausstaffiert, von Tür zu Tür zogen. Auch all die fantasielosen Soldaten, Piloten, Piraten, Krankenschwestern und Polizisten, die bei uns anklopften, waren ihr ein Graus.
    Zu unserer Familie gehörte Sooner, eine beigefarbene Promenadenmischung mit glattem Fell, etwa so groß wie ein Irish Terrier, auch wenn unsere Hündin weder irisch noch Terrier war, sondern einfach ein glückliches Tier, das meine Mutter liebte und uns andere tolerierte, vielleicht sogar mochte.
    Einmal – ich muss da etwa zehn gewesen sein – fragte meine Mutter uns ein paar Tage vor Halloween, als was wir gehen wollten. Um nicht ›Gespenst‹ zu sagen, schlug ich aufs Geratewohl ›Raumfahrer‹ vor und mein Bruder ›Cowboy‹. Meine Mutter stöhnte.
    Sie zündete sich eine Zigarette an (damals wurde noch geraucht, überall und ständig, und so starb sie denn mit 84 an einer Raucherlunge, zog aber noch mit 82 ihre Bahnen im öffentlichen Schwimmbad). Sie sah zwischen mir und meinem Bruder hin und her, als frage sie sich, wie sie so farblose Geschöpfe in die Welt hatte setzen können.
    Dann kam Sooner unter dem Sessel meiner Mutter hervor, stellte sich auf die Hinterbeine, legte ihr eine Pfote auf den Schoß und winselte etwas in Hundesprache.
    »Was sagst du?«, fragte meine Mutter. Sie nahm einen langen Zug, betrachtete die Vorhänge, blies langsam Rauch aus, bedachte uns drei nacheinander mit einem nachdenklichen Blick, drückte die Zigarette aus und sagte: »Warum nicht?«
    Von da an kamm Sooner an Halloween immer mit, bettelte in seinem Outfit mit uns und für uns. Wir kassierten die Süßigkeiten, Äpfel und sonstigen Leckereien, mussten dafür nicht einmal mehr in irgendeiner unsinnigen Verkleidung herumlaufen.
    Das erste Jahr war das Jahr des Löwen. Löwen haben Mähnen; meine Mutter hatte eine unverheiratete Tante, Gertrude, deren elegantestes Kleidungsstück eine Fuchsstola war, die man sich so um den Hals legte, dass Kopf und Schwanz nach vorne zeigten. Um sie von Tante Gert geliehen zu bekommen, erfand meine Mutter die Einladung zu einer Hochzeit, auf der sie damit glänzen wollte.
    Tante Gert ließ sich erweichen. Den Rest des Löwenfells erstellte Sooner, er war ja beige. Doch Löwen haben Klauen und Pranken. Vier graue Topflappen, gespickt mit den Spitzen von Stricknadeln, lieferten die Tatzen; als Schwanz diente ein Stück Vorhangschnur mit Quaste.
    In den Jahren danach gab es ein Zebra, einen Elefanten, für den vier von Küchenkrepp herrührende Papprollen herhielten, und einen wenig überzeugenden Eisbären dank dem weißen Strampelanzug des drei Monate alten Babys eine Cousine. (Das Dumme an vielen Tieren ist, dass sie runde Köpfe haben. Hunde nicht, und sie lassen sich nur ungern etwas über den Kopf ziehen.) So hatte der Eisbär einen länglichen Kopf mit spitzer Schnauze. In Beige.
    Beim letzten Mal legte meine Mutter sich besonders ins Zeug und verwandelte Sooner in eine Cheerleaderin. Im Oktober strickte sie ein weißes Football-Trikot mit vier sehr kurzen Ärmeln, Konfektionsgröße im Minusbereich. Auf den Rücken stickte sie in Rot die Nummer 28. Das kurze Röckchen stiftete wieder einmal Tante Gert: einen uralten Lampenschirm aus Seidenbrokat mit Troddeln unten dran und – glücklicher Zufall – genau in der richtigen Große für Sooners Taille, also einen Körperteil, der in der Hundeanatomie gar nicht vorgesehen ist. Vielleicht spürte Sooner, dass dies das letzte Jahr war, in dem wir uns mit solch kindischen Spielchen abgaben, und ließ sich ausnahmsweise eine Perücke aufsetzten; meine Mutter opferte für die Fabrikation ihre Badekappe, stach unter großem Zeitaufwand zahlreiche Löcher in die Gummihaube und fädelte durch jedes einzelne ein Stück gelber Strickwolle. Zu ihrem beträchtlichem Verdruss gelang es ihr nicht, zwei Paar Turnschuhe zu erfinden. Doch immerhin lief Sooner so leichten Fußes von Haus zu Haus, während wir »Süßes oder Saures« riefen, in der Hoffnung auf Einlass.