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Der neue Roman von Bernhard Schlink: ein Buch über letzte Aufgaben und späte Wünsche

Nach Erscheinen der Enkelin vor rund zwei Jahren dürfen wir uns wieder über neuen Lesestoff von Bernhard Schlink freuen. Sein Roman Das späte Leben stellt uns vor tiefgründige Fragen und lässt uns bis zur letzten Seite nicht mehr los.

Was würden Sie tun, wenn Sie wüssten, dass Ihr Leben dem Ende zugeht? Wie würden Sie es Ihren Liebsten sagen? Martin, der Protagonist der Geschichte, erhält eine fatale Diagnose und steht unvorbereitet vor der Aufgabe, den Rest seines Lebens zu planen. Die geregelten Bahnen, denen sein Leben als betagter Familienvater und Ehemann folgte, entgleiten ihm. Er blickt in eine Zukunft, an der er selbst nicht mehr teilhaben wird, und versucht zu begreifen.

Steht das Buch auch schon auf Ihrer Leseliste? Werfen Sie hier einen ersten Blick in den Text!

Foto: Gaby Gerster / © Diogenes Verlag

Leseprobe

Er nahm nicht den Aufzug, sondern die Treppe. Er ging langsam hinunter, Stufe um Stufe, Stockwerk um Stockwerk, registrierte das Weiß der Wände, das Grün der Zahlen, die neben dem Aufzug die Stockwerke anzeigten, das Grün der Türen. Dann stand er vor dem Haus und registrierte die frische Luft, die Fußgänger auf dem Gehweg, die Autos auf der Fahrbahn, das Gerüst am Haus gegenüber. Sein erster Gedanke war, dass er statt der Treppe den Aufzug hätte nehmen sollen, jetzt, wo ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Als eine Taxe vorbeifuhr, hielt er sie an und stieg ein. Der Fahrer grüßte und machte eine Bemerkung über den schönen Morgen nach dem Regen der letzten Tage. Der Himmel war blau, die Sonne schien, auf dem Grün in der Mitte der Straße blühten Krokusse. Ja, dachte er, was für ein schöner Morgen. Wie habe ich mich immer über den Frühling gefreut nach den langen Monaten, in denen der Himmel tief und grau über der Stadt lag!

(S. 7)

Wenn er nur nicht zum Arzt gegangen wäre! Was dort geschehen war, wäre nicht geschehen, was er dort erfahren hatte, hätte er nicht erfahren. Was er nicht erfahren hätte, wäre nicht gewesen. Er schüttelte den Kopf. Warum hätte er nicht zum Arzt gehen sollen? Er fühlte sich seit Wochen erschöpft, dachte, es ginge um Blutarmut oder Vitaminmangel, und erwartete einen Hinweis zur Lebensführung und ein Rezept. Sie kannten sich seit vielen Jahren, das Verhältnis zwischen ihnen war vertraut, auch wenn es über die Begegnungen in der Arztpraxis nicht hinausging. Er war zwanzig Jahre älter und froh über den Altersunterschied, von dem er sich versprach, dass er den Arzt nicht vor seinem Tod an den Ruhestand verlieren und durch einen neuen ersetzen müsste. Die jährliche Untersuchung und mal Bauchschmerzen, mal Verlust der Stimme, mal Hexenschuss, die gelegentliche Impfung – nie war es um mehr gegangen. Aber nach einer Ultraschalluntersuchung, Urin- und Bluttests und einer Computertomografie eröffnete der Arzt ihm, er habe Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das sei nicht mehr so schlimm wie früher, die Fortschritte der Chemotherapie seien enorm, und überdies gebe es neuartige Behandlungsmethoden, manche schon bewährt, manche noch experimentell. Der Krebs sei zwar fortgeschritten, er könne nichts garantieren und wolle nichts versprechen, aber je rascher die Behandlung beginne, desto besser. Er sah dem Arzt beim Reden zu, den Augen, die sich immer wieder seinem Blick entzogen und auf den Schreibtisch richteten, den Händen, die auf dem Schreibtisch Papiere hin- und herschoben und schließlich eines zerknüllten.
»Wie lange?«
Der Arzt zögerte. »Das können wir nicht sagen.«
»Etwas werden Sie schon sagen können. Drei Wochen oder drei Jahre?«
»Wohl nicht länger als ein halbes Jahr.«

(S. 10-11)

Das späte Leben
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Das späte Leben

Martin, sechsundsiebzig, wird von einer ärztlichen Diagnose erschreckt: Ihm bleiben nur noch wenige Monate. Sein Leben und seine Liebe gehören seiner jungen Frau und seinem sechsjährigen Sohn. Was kann er noch für sie tun? Was kann er ihnen geben, was ihnen hinterlassen? Martin möchte alles richtig machen. Doch auch für das späte Leben gilt: Es steckt voller Überraschungen und Herausforderungen, denen er sich stellen muss.


In wenigen Stunden musste er seiner Frau und seinem Sohn begegnen. Wie? Würde er David vom Kindergarten abholen, als sei nichts? Würde er auch Ulla zunächst nichts sagen und erst nach dem Abendessen mit ihr reden, wenn David im Bett lag? Auf dem Sofa, den Arm um ihre Schultern, bei einer Flasche Wein und mit einem Feuer im Kamin?
Beim Abschied vom Arzt hatte er die nötige Entschlossenheit aufgebracht, und er würde es auch bei den Begegnungen mit Frau und Sohn. Dass er nicht wusste, wohin er gehörte, noch zu den Lebenden oder schon zu den Toten, dass er sich verdächtig war, würde ihm nicht dazwischenkommen. Er zog den Mantel aus, machte Kaffee und setzte sich ins Wohnzimmer.
Er wusste, dass, was der Arzt gesagt hatte, ihn noch nicht wirklich erreicht hatte. So war es immer schon gewesen. Als ihn seine erste Freundin, seine erste Liebe, verließ, dauerte es Tage, bis er begriff, dass sie nicht mehr in seinem Leben war, er sie nicht mehr sehen, nicht mehr mit ihr reden, sie nicht mehr berühren, nicht mehr mit ihr schlafen würde. Erst als er es begriffen hatte, begannen der Schmerz und die Trauer. Ähnlich konnte er sich über das Examen, das er als der Beste seines Jahrgangs bestanden hatte, erst nach Tagen freuen; davor bezweifelte er, dass die gute Nachricht stimmte, glaubte, das Prüfungsamt habe sich vertan und werde das Ergebnis alsbald korrigieren. Manchmal half ihm seine Langsamkeit; er reagierte auf Überraschungen, Provokationen, Krisen nicht gefühlsmäßig und wurde für kaltblütig gehalten, obwohl er seine Gefühle nicht kontrollierte, sondern noch keine hatte, weil sie erst später kamen. Oft kränkte seine Langsamkeit andere, seine verzögerte Freude über ein Geschenk, eine liebende Annäherung, einen innigen Moment. Er hatte auch schon den Verdacht gehabt, etwas stimme mit ihm nicht, er habe keine Gefühle, er wisse nur, dass es sich gehört, in bestimmten Situationen bestimmte Gefühle zu haben, und stelle nach der entsprechenden Situation das entsprechende Gefühl her – für sich und für die anderen. Was gehörte sich in seiner Situation? Gab es ein Gefühl, das man im Angesicht des Todes zu haben hatte?

(S. 14-16)

Bernhard Schlink, 1944, Jurist, lebt in Berlin und New York. Sein erster Roman Selbs Justiz erschien 1987; sein 1995 veröffentlichter Roman Der Vorleser, in über 50 Sprachen übersetzt, mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet und 2009 von Stephen Daldry mit Kate Winslet unter dem Titel The Reader verfilmt, machte ihn weltweit bekannt. Zuletzt erschien von ihm der Roman Die Enkelin (2021).